14. Oktober 2017

Nicht der Roboter bedroht uns, sondern?

Vorhersagen treffen meist entweder nicht oder ziemlich anders ein. Wenn jemand fürchtet, die Roboter würden eines Tages die Menschen nicht nur am Schachbrett übertreffen, sondern sich selbständig machen und uns bedrohen, zielt er auf das Gruseln. Bei einem üblen Zusammenspiel von Überwachern und Technik würde ein bürgerliches Bravsein ohne Freiheit erzwungen, das die Rebellion vieler wecken würde. Das Thema deckt auch eine Veränderung in unserem Weltbild auf. Nicht Roboter werden die Menschen besiegen wollen, sondern eine wirkliche Gefahr ist: Der Mensch versteht seine Stärke in der Schwäche nicht mehr, er stuft sich herab auf eine bloß höhere Tierart ohne freien Willen, mit nur automatischen Gefühlen, wie eine langsame Schnecke oder ein seelenloser Affe. ­

Der Roboter will dem Menschen nichts Böses

Er kennt keine Rache, kein Herrschen, nur das Gebrauchtwerden.

Roboter sind an- oder ausgeschaltet. Sie ruhen nicht, warten nicht, schlafen nicht. Sie haben ein besseres und schnelleres Gedächtnis als der Mensch, aber kein biographisches, kein Selbst- und Weltbewusstsein, auch wenn man ihnen Namen gibt wie der Bauer seinen Kühen. Sie ärgern sich nicht, sie wollen nicht zum Mars, um ihn bewohnbar zu machen, obwohl sie es leichter überstehen würden als wir. Sie haben vielleicht das Datum ihres Stillstands programmiert, aber wissen nicht, was Ende und Tod sind. Sie haben kein Freiheitsgefühl. Vielleicht werden welche mit der Fähigkeit zu Variablem entstehen, aber auch dann entscheidet der Zufall und nicht ihre Willkür. Sie haben keine Gefühle der Liebe, der Traurigkeit, der Freude, - es sei denn, auch beim Menschen wäre alles nur Chemie und Elektrik.

Manche meinen, in den letzten Jahren hätte der Begriff Seele ein Comeback erlebt. Sie verwechseln etwas. Schon als Aristoteles sein Buch „De anima“ schrieb, dehnte er die Seele auf die Tiere und die Pflanzen aus, er verstand sie biologisch und abstrakt. Und seine Seelenauffassung ist unpersönlich, während das Christentum in der Seele die individuelle Beziehung Gottes zu jeder Person sah.

Von wem stammt der Satz: „Die Rechenmaschine zeigt Wirkungen, die dem Denken näher kommen als alles, was Tiere vollbringen; aber keine, von denen man sagen muss, dass sie Willen habe wie die Tiere“? Er steht auf einem Zettel (Fragment 340) in der Sammlung Pascals für sein geplantes Hauptwerk.

Der geniale Erfinder der Rechenmaschine und des städtischen ‚Omnibus‘-Verkehrs Blaise Pascal (†1662) notierte: „‘Schaut zu Gott empor, sagen die einen‘. ‚Kopf hoch, freie Menschen!‘ sagt Epiktet. Und die anderen sagen: ‚Schlagt die Augen zur Erde nieder, kümmerliches Gewürm, das ihr seid, und schaut auf die Tiere, deren Gefährten ihr seid.‘ Was wird also der Mensch werden? Wird er Gott oder den Tieren gleich sein? Was für eine Chimäre ist doch der Mensch? Welches Ungeheuer, welches Chaos, welches Ding des Widerspruchs. Richter aller Dinge, einfältiger Erdenwurm; Glanz und Auswurf des Weltalls“ (Pensées, Fragm. 434).

Der Mensch nur ein nackter Affe oder nur eine Maschine wurde dann zur Einseitigkeit von Aufklärern.

Das neuzeitliche Denkgefühl

Man kann bei dem prophetischen Denker Nietzsche die Symptome für die Zurückstufung des Menschen genannt finden.

Die Furcht vor den Tieren, vor den Göttern und vor seinen Angstträumen hat der Mensch verloren. Er fürchtet keinen Gott und kein Weltgericht mehr. „Die moderne Wissenschaft hat als Ziel: so wenig Schmerz wie möglich, so lange leben wie möglich – also eine Art von ewiger Seligkeit, freilich eine sehr bescheidene im Vergleich mit den Verheißungen der Religionen“ (Menschliches, Allzumenschliches I, Nr. 128). Die Wachen spürten daran schon zu Zeiten Nietzsches: „Das neue Grundgefühl: unsere endgültige Vergänglichkeit. – Ehemals suchte man zum Gefühl der Herrlichkeit des Menschen zu kommen, indem man auf seine göttliche Abkunft hinzeigte; dies ist jetzt ein verbotener Weg geworden, denn an seiner Tür steht der Affe, nebst anderem greulichen Getier. Am Ende dieses Weges steht die Graburne des letzten Menschen und Totengräbers“ (Morgenröte I, Nr. 49).

Wir sind verloren im Weltall

Blaise Pascal hatte für das neue Weltgefühl den Ausdruck geprägt: „Das ewige Schweigen dieser unendlichen Räume erschreckt mich / macht mich schaudern“ (Pensées, Fragm. 314).

Die Einsicht, dass die Menschheit im Universum nur aus Zufall eine gewisse Zeit oder in ewiger Wiederholung existiert, beendet nach Nietzsche den Gedanken an eine göttliche Leitung der Ereignisse und damit an einen Sinn von Schmerz und Tod. Und noch schärfer: Wozu noch eine Moral? „Vielleicht ist das ganze Menschentum nur eine Entwicklungsphase einer bestimmten Tierart von begrenzter Dauer; so dass der Mensch aus dem Affen geworden ist und wieder zum Affen wird, während niemand da ist, der an diesem verwunderlichen Komödien-Ausgang irgendein Interesse nehme“ (Menschliches, Allzumenschliches I, Nr. 247).

Nietzsche weiter: „In irgendeinem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Tiere das Erkennen erfanden. Es war die hochmütigste und verlogenste Minute der ‚Weltgeschichte‘: aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Atemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Tiere mussten sterben. Es war auch an der Zeit: denn ob sie schon viel erkannt zu haben sich brüsteten, waren sie doch zuletzt, zu großer Verdrossenheit, dahinter gekommen, dass sie alles falsch erkannt hatten.“ (Über das Pathos der Wahrheit, Vorrede zu einem ungeschriebenen Buch). In diesem Sinn spricht er von den „nihilistischen Konsequenzen der jetzigen Naturwissenschaft“. Eine lautet: „Seit Kopernikus rollt der Mensch aus dem Zentrum ins x“ (Nachlass).

Bedeutet das eine Existenz im Nihilismus?

Nihilismus ist eine extreme Form des Pessimismus, also kein Weg für einen höheren Menschen, von dem Nietzsche träumte: „Ein Wozu? ein neues Wozu? – das ist es, was die Menschheit nötig hat“ (Nachlass). Schopenhauer war ihm nicht stark genug zu einem neuen Ja. Nach dem Nihilismus müsse eine Umwertung aller Werte kommen. „Wir haben, irgendwann, neue Werte nötig.“ Zu jenen sozialen Werten, die einmal verstanden wurden, „als ob sie Kommandos Gottes wären“, und die dann zu den Idealen der Revolution wurden und immer wieder in die Zukunft verlegt werden mussten, notierte er: „Jetzt, wo die mesquine Herkunft dieser Werte klar wird, scheint uns das All entwertet, ‚sinnlos‘ geworden, - aber das ist nur ein Zwischenzustand.“ Ein praktisches Beispiel zu einem heute aktuellen Thema findet man im Nachlass: Gleichberechtigung bedeute keine Gleichartigkeit. Nietzsche argumentierte gegen John Stuart Mill: Gegenseitigkeit der Leistung sei eine große Gemeinheit, da jeder etwas Einmaliges sei und tue.

Alle unsere Erkenntnisse sind nur subjektiv wahr

Der Aufgeklärte ist sich nicht mehr sicher, dass er eine Wahrheit finden kann, oder ist sich sogar sicher, dass er keine objektive erwarten darf. Alles sieht er nur durch die Brille seines Gehirns. „Der wirkliche Vorgang der inneren ‚Wahrnehmung‘, die Kausalvereinigung zwischen Gedanken, Gefühlen, Begehrungen, zwischen Subjekt und Objekt ist uns absolut verborgen – und vielleicht eine reine Einbildung“ (Nachlass). Das erfordert sogar den Satz: „Vielleicht ist die seiende Welt ein Schein.“

Was den Menschen über das Tier erhob, wird ganz reduziert: „Es gibt weder ‚Geist‘, noch Vernunft, noch Denken, noch Bewusstsein, noch Seele, noch Wille, noch Wahrheit: alles Fiktionen, die unbrauchbar sind. Es handelt sich nicht um ‚Subjekt und Objekt‘, sondern um eine bestimmte Tierart, welche nur unter einer gewissen relativen Richtigkeit, vor allem Regelmäßigkeit ihrer Wahrnehmungen (so dass sie Erfahrung kapitalisieren kann) gedeiht“ (Nachlass).

Nietzsche bewunderte Pascal als Psychologen, verwarf aber dessen Christenglauben und den Gedanken einer unsterblichen Seele. Pascal hatte den Unterschied zwischen dem Automaten und dem Leben betont und gegen Descartes Lehre von den Tieren als Automaten bemerkt: „Die Rechenmaschine zeigt Wirkungen, die dem Denken näher kommen als alles, was Tiere vollbringen; aber keine, von denen ,man sagen muss, dass sie Willen haben wie die Tiere“ (Pensées, Fragm. 117). „Wir sind ebensosehr Automat wie Geist“, sagt er (Fragm. 222). Und artikuliert das Paradox: „Die Größe des Menschen ist groß, weil er sich als elend erkennt. Ein Baum weiß nichts von seinem Elend“ (Fragm. 113). Denn vom Elend her sucht der Mensch den Ausweg und findet möglicherweise viel mehr: „Größe des Menschen sogar in seiner Konkupiszenz, da er es verstanden hat, aus ihr eine bewunderungswürdige Ordnung zu schaffen und ein Bild der Liebe Gottes daraus zu formen“ (Fragm. 130).

Nietzsches Religionskritik trifft ein falsches Christentum

Wenn jemand heute den Hund emporhebt zu einem Lebewesen mit Seele, aber den Menschen herabstuft zu einem Lebewesen mit bloß eingebildetem Vermögen zu Willensfreiheit und Gewissen, behauptet er: Der Mensch ist ein Säugetier, das die ersten 50 000 Jahre seines Auftretens Götter hatte.

Die Aufklärung über die bloß natur- und menschenhaften Götter kann aber auch einen berechtigten Grund haben wie bei den griechischen und den jüdischen Religionskritikern.

Wenn der Mensch ohne Gottesglaube automatisch auf eine Tierstufe zurückfallen müsste, wäre die doch augenscheinliche Existenz von guten und gerechten Agnostikern unmöglich. Es gäbe dann auch keine Glaubensfreiheit, die doch grundwichtig ist. Genau besehen übernehmen seit der Aufklärung politisch und sozial engagierte Nichtreligiöse den von den meisten Sonntagschristen unterlassenen Auftrag: in Gegenwart eines verborgenen Gottes den Menschen zu befreien. Ohne die Verwirklichung durch Menschenkraft musste die Rede von einem ohnmächtigen Gott aufkommen.

Pascal war der erste, der nach 1500 Jahren Entfremdung erkannte, dass keine Gottesvorstellung vor der Kritik Bestand hat, außer der Erfahrung, dem experimentellen Wissen des jüdischen immer noch lebendigen Volkes. Darauf gründet auch sein berühmtes Bekehrungserlebnis, festgehalten in seinem im Rock eingenähten Mémorial: „Dieu d’Abraham, Dieu d‘Isaac, Dieu de Jacob non des philosophes. Dieu de Jésus-Christ“.

Er definierte das Dilemma, das die Kirchen bis heute lähmt: „Die Heiden erkennen Gott nicht und lieben nur die Erde. Die Juden erkennen den wahren Gott und lieben nur die Erde. Die Christen erkennen den wahren Gott und lieben die Erde nicht. Die Juden und die Heiden lieben die gleichen Güter. Die Juden und die Christen erkennen [aber doch] den gleichen Gott“ !? (Pensées, Fragm. 374).

Der Gottesglaube ist im Abendland, außer in religiösen Rückzugswinkeln, tot. Ein Ersatz wird gern in der Kunst gesucht. Sie wird zum großen Stimulans, zur Gegenkraft, zum Erlöser oder Verklärer des Leidens. Bereitet aber auch sie nicht den Nihilismus vor?

Nietzsches Bote mit der Nachricht „Gott ist tot“ meinte zwei Dinge: 1) Der Gottesglaube bewegt die Menschen heute nicht mehr. Und 2): Eine ernstzunehmende christliche Theologie nach der Aufklärung ist nirgends zu sehen.

Pascal und Nietzsche durchschauten Vieles. Beide lobten das frühe Judenchristentum. Wir ahnen, dass ihre persönliche Verletzung und Kritik an einer nichtaufgeklärten Theologie eine berechtigte Religionskritik war. Sie sahen eine falsche Praxis und griffen sie an.

Der Postchrist Nietzsche kannte nicht mehr die Kriterien der Unterscheidung zwischen Religion und biblischem Glauben. So wandte er sich gegen den Begriff Geschichte und gegen die Bedeutung von Personen für die Geschichte des Gottesvolkes mit seinem Gott, also gegen den Erfahrungsort und hielt nur allgemeingültige ethische Prinzipien für wichtig.

Pascals Entdeckung des besonderen Gottesvolkes der Juden als Experiment für die Frage nach Gott und der Menschenwürde kannte oder erkannte er nicht. Es mag daran liegen, dass er wie schon Lessing an der biblischen Wunder-Sprache und an den Dogmen-Streitereien scheiterte. Aber in der Hauptsache sah er sich im Stich gelassen bei seiner Frage: „Aus der bekannten Welt ist der humanitäre Gott nicht nachzuweisen: so weit kann man euch heute zwingen und treiben. Aber welchen Schluss zieht ihr daraus?“ (Nachlass)

Es fehlten also die zeitgenössischen Wunder durch ein Gottesvolk. Nietzsche verlangte das Eingeständnis Entweder - Oder. Da diese Beichte ausblieb und keine starken Christen erschienen, musste er den starken neuheidnischen Menschen fordern.

Nicht die Roboter bedrohen die Menschheit, sondern der Verlust der Menschenwürde auf Seiten des Postchristentums und das Ende der Kulturkraft auf Seiten der Kirchen.

Ludwig Weimer

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