25. September 2017

Und sie verstehen es doch nicht: Gesetzte Gedanken zur gestrigen Wahl

Wer gestern Abend - so wie der Verfasser dieser Zeilen - die Wahlberichterstattung im Ersten verfolgte, konnte den Eindruck gewinnen, dass die AfD einen Erdrutschsieg errungen hatte, der es den anderen Parteien verunmöglichte, gegen Gauland und Co. eine Regierung zu bilden. Wohlgemerkt: Die AfD ist die Gewinnerin des gestrigen Tages. Sie hat ihr Resultat von 2013 nahezu verdreifacht und zieht hinter den einstigen Volksparteien als drittstärkste Kraft in den Deutschen Bundestag ein. Doch die 12,6 Prozent, die sie laut dem vorläufigen amtlichen Endergebnis geholt hat, sind so überraschend nun nicht, wurde die vor vier Jahren aus der Taufe gehobene Gruppierung doch in den letzten Umfragen der Meinungsforschungsinstititute auf 10 bis 13 Prozent taxiert.

Bei all der Hysterie um den Einzug der AfD in das föderale Parlament wurde vergessen und von den Verlierern der Abstimmung wohl auch gerne übergangen, was das eigentlich Bedeutsame an der gestrigen Entscheidung über die Besetzung der Volksvertretung war: Die Union und die SPD stürzten in der Gunst der Votanten so weit ab, dass sich auch der endunterftigte Blogger zu historischen Vergleichen hinreißen ließ. Die einstmals Konservativen schnitten seit Bestehen der Bundesrepublik nur anno 1949 schlechter ab. Die SPD wurde unter der Herrschaft des Grundgesetzes noch nie mit so viel Abneigung bestraft wie am 24. September 2017.
­
Die Alte Tante verkündete in Minutenschnelle, dass sie sich alternativloserweise zwecks Frischzellenkur in das Sanatorium namens Opposition begeben würde. Die FDP und die Grünen nahmen diese Verlautbarung mit deutlich erkennbarem Missfallen zur Kenntnis, so als hätte man ihnen die sprichwörtliche heiße Kartoffel in die Hände geworfen. Und tatsächlich stellt sich die Frage, wie die nunmehr auf dem Verhandlungsprogramm stehende Schwampel-Koalition denn überhaupt funktionieren soll.

Die heftig abgewatschte CSU hat bei den Landtagswahlen im kommenden Jahr ihre absolute Mehrheit zu verteidigen, weshalb sie eine klare, knackig konservative Kante zeigen muss. Entgegen dem, was Hans-Ulrich Jörges bei Anne Will predigte, hat die bayerische Dominanzpartei nicht deswegen so krachend versagt, weil sie AfD-Politik machte, sondern weil Seehofer zwar unter lautem Hupen und Gestikulieren rechts blinkte, aber dann doch auf dem linken Fahrstreifen hinter Merkels verbrennungsfrei motorisiertem Schlafwagen verblieb.

Wie, bitte, verträgt sich nun eine mit drei Rufzeichen auf der To-Do-Liste notierte Obergrenze mit der Agenda der Grünen, die es zwar so frank und frei nicht einräumen, die aber alles dafür tun, dass die beliebige Immigration nach Deutschland möglichst wenigen Hürden ausgesetzt ist? Und wie könnte eine FDP, wenn sie nicht schon wieder mit dem Stigma des ewigen Umfallers und des als Bettvorleger gelandeten Tigers behaftet sein möchte, schwarz-grünen Deindustrialisierungsphantasien und dem Merkel'schen Segen für die Vertiefung der Schulden- und Transferunion nachgeben?

Jamaika mag eine schöne Insel sein, aber politischer Reggae-Rhythmus ist dann doch deutlich zu holprig.

*
**

Haben die medialen Multiplikatoren auch nur einen Hauch von dem verstanden, was da gestern vor sich gegangen ist? Nein, siehe Hans-Ulrich Jörges. Nein, siehe Anne Will, die sich als Leiterin des Tribunals gegen Alexander Gauland betrachtete (den Advocatus Diaboli spielte übrigens Wolfgang Kubicki). Nein, siehe Ingo Zamperoni, der Gaulands Äußerung, die AfD werde "Frau Merkel oder wen auch immer jagen", mit besorgtem Blick und der in seinen Kreisen als rhetorisch empfundenen Frage kommentierte, ob das der künftige Ton im Bundestag sei.

Man möchte dies nach vier Jahren des Konsenses, in denen die sozialdemokratisch-grüne Politik der Bundekanzlerin nicht dem Grunde nach kritisiert wurde, sondern in denen ihr allenfalls vorgeworfen wurde, nicht weit genug zu gehen, sehnlichst hoffen. Wo ist der Streit um die besten Ideen, um die Zukunft dieser Republik geblieben? Was ist so gut daran, wenn alle Politiker an einem Strang ziehen?

Der Merkel-Mehltau hat gestern einen empfindlichen Dämpfer erfahren. Es wird Zeit, dass man sich das in den Redaktionsstuben der Leitpublikationen dieses Landes nicht mehr schönredet.

Noricus

© Noricus. Für Kommentare bitte hier klicken.