16. Juli 2017

Empathie – hilft sie oder schadet sie?

In der letzten Zeit ist die Neigung des Menschen zur Nächstenhilfe, die der Fähigkeit des menschlichen Gehirns zum Mitgefühl mit Not und Leid anderer zu verdanken ist, in die Kritik geraten. Die Presse diskutierte Fälle vorschneller und falscher Solidarisierungen mit „Opfern“, und Bücher von Fachleuten beschäftigten sich mit der „Empathiefalle“ und dem falschen Gewissen des ‚Gutmenschen‘. Das Thema reicht von den „Helikopter-Eltern“, die zu viel Sorge um ihre Kinder haben, bis zur Frage einer schädlichen, die Eigeninitiativen lähmenden Entwicklungshilfe und Caritas und zu den Gefahren einer kriegerischen Interventionspolitik. ­

Einige Stimmen dazu: Paul Bloom (geb. 1963), kanadisch-US-amerikanischer Professor für Psychologie an der Yale University in New Haven, erregte seit 2014 Aufmerksamkeit durch die These, dass reine Empathie bei moralischen Entscheidungen keine gute Hilfe sei, weil sie nicht nach den harten Fakten frage. Er empfiehlt stattdessen Mitgefühl (compassion), ein Gefühl, das Menschen auch dann motiviert, anderen zu helfen, wenn diese anders sind als man selbst, und das auf ruhige, überlegte Weise handeln lässt.

Fritz Breithaupt (geb. 1967), ist deutscher Literatur-, Kultur- und Kognitionswissenschafter, Professor und Chair des Department of Germanic Studies an der Indiana University Bloomington (USA). Breithaupt interessiert sich für die Auslöser und die Blockaden von Empathie. Zu viel Empathie könne zu Selbstverlust führen. Einen Empathie-Auslöser erblickt er in sozialen Dreierszenen: Jemand beobachtet einen Konflikt und ergreift mental die Partei eines der Kontrahenten; um seine Entscheidung zu legitimieren, beginnt der Beobachter die Perspektive des einen zu übernehmen, seine Vorgeschichte zu narrativieren – und entwickelt dabei Empathie.

Breithaupt beschäftigt sich auch mit den „dunklen Seiten“ der Empathie. Dazu gehört der empathische Sadismus, in dem jemand einen anderen quält, um dessen Gefühle besser nachvollziehen zu können.

In jüngeren Arbeiten entwickelte er Gedanken zum Akt des narrativen Denkens. Narratives Denken bestehe darin, zu einer gegebenen Darstellung Variationen und Alternativen zu entwickeln. Auf die offene Zukunft bezogen bedeute dies Spannung, auf die Vergangenheit Zweifel. Der Ursprung der „Viel-Versionalität“ des Erzählens sei in evolutionärer Hinsicht im Akt der Ausrede zu sehen: Wer seinen Kopf aus der Schlinge ziehen will, tut gut daran, die von anderen wahrgenommenen Zusammenhänge anders zu erzählen. Aufbauend auf dieser Definition des narrativen Denkens analysiert Breithaupt kulturelle Praktiken des Rechts, des Gewissens und der Identität.

Wozu sind Menschen fähig, weil sie über Mitgefühl verfügen? In "Die dunklen Seiten der Empathie" konzentriert sich dieser Kognitionswissenschaftler auf schlechte Taten in Verbindung mit dieser positiv besetzten Empfindung.

Und selbst die Empathie angesichts schrecklicher Ereignisse habe ihre dunklen Seiten, stellt Breithaupt klar. Da wir Empathie nur zeitlich begrenzt aufbringen könnten, denn sie ist anstrengend, muss das Ende in Sicht sein. Deshalb erfahren chronisch Kranke weniger Empathie als kurzzeitig Kranke. Und, so lautet eine der Thesen dieses Buches: Empathie gilt oft gar nicht den Leidenden oder Opfern, sondern unausgesprochen ihren Helfern. Wer mit dem Helfenden statt mit dem Leidenden mitfühlt, empfindet sich selbst ein bisschen wie ein Helfer.

Wir würden vielleicht nicht moralisch handeln, weil wir Empathie empfinden, sondern wir moralisierten, weil wir vorschnell Partei ergriffen hätten und voreingenommen seien.

Ein Buch von Tillmann Bendikowski (geb. 1965), einem deutschen Journalisten und Historiker, mit dem Titel „Helfen. Warum wir für andere da sind“ (C. Bertelsmann, München 2016) verteidigt hingegen das, was die Rezensenten etwas distanziert und kühl „die christliche Helfertradition“ nennen.

Ich persönlich denke im Blick auf meine Lebenserfahrungen, dass die Helfer-Haltung meiner Mutter, Witwe mit fünf Kindern, mich als Kind wohl mehr prägte als der Katechismusunterricht durch den Pfarrer. Sie kümmerte sich nämlich um die polnischen kriegsgefangenen Soldaten, die im Dorf Arbeitsdienst hatten, und sie ließ sich feierabends zu kranken Kindern rufen und vertröstete uns mit einem „Die brauchen mich, ihr kommt schon selber zurecht“. Eine Erinnerung schoss mir erst mit 40 Jahren gelegentlich einer Erstkommunionfeier in der Kirche wieder in den Kopf. Es handelt sich um ein 1949 in Unterfranken noch mögliches Ereignis: Sie schickte mich zu einer der zwei als „Hexen“ verschrieenen alten Frauen im Dorf , dass ich sie an die häusliche Festtafel zu meiner Erstkommunion einlade. „Weil es keine Hexen gibt, aber böse Menschen“, sagte sie. Mit Herzklopfen ging ich in das Haus. Die ‚Hexe‘ kam vor lauter Freude schon zwei Tage vorher zum Mithelfen und –backen.

Ludwig Weimer

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