3. Juli 2017

Coda: das Lied vom kalten Regen. 寒雨曲

Als akustische Coda zum gestrigen Sturzregen - denn Joris Ivens` Bilderetüde wendete sich zuerst ans Auge, und darüber hinaus ist die Tonspur, die Hans Eisler 1941 zwölf Jahre später dafür komponierte, eine Beigabe zur ursprünglich stumm konzipierten Sonatine, und zudem der kantigen, akustischen Bauhaus-Ästhetik der Tonsetzerkunst etwa eines Bartok oder Orff verpflichtet, was diametral dem Fließenden, Plätschernd-Melodischen, dem Melancholisch-Getragenen, und was der Assoziationen mehr sind, die sich ans Bild des Sommerregens zwanglos anknüpfen, gegenstrebig scheint; nicht zuletzt - wofür nun die Bild- wie die Tonfolge nichts können, und wovon sie auch keine Spur aufweisen: nämlich die zeitlebende unerschütterliche kommunistische Einstellung von Tonsetzer wie Filmemacher selbst zu Hochzeiten stalinistischer Rigorosität - und die Propagierung derselben - aber hier ließe sich die Sentenz von Michael Klonovsky ensprechend abwandeln: "Die Zugehörigkeit zum intellektuellen Pöbel manifestiert sich in keiner Eigenschaft deutlicher als in der Unfähigkeit, die literarische Qualität eines Textes zu würdigen, dessen inhaltliche Tendenz einem zuwider ist"; und nichts vermag hier einen passenderen Kontrapunkt zu setzen als ein Stück der chinesischen Populärmusik, zumal solcher aus Taiwan, deren erstes Auftauchen in den Radioprogrammen auf dem Festland 1979 nach dem Einläuten von Deng Xiaopings Öffnungspolitik einen denkbar großen Kontrast zu den bisherigen Einpeitschungs- Brigade- und Pioniermärschen bildeten, die dreißig Jahre lang den Soundtrack zum Leben in der Volksrepublik geliefert hatten. Als Türöffner dienten die Songs von Teresa Teng (1953-1995): auf Kassetten verbreitet, spätnachts in Radioprogrammen gespielt, machten sie wie nichts anderes klar, daß auch klangliche Melancholie, Liebesschmerz, Privatheit wieder zum erlaubten Leben gehören durften: ihre Fans nannten sie die "kleine Deng" (der Unterschied des Anlauts entspricht der Anlautverhärtung des in Südchina in auf Taiwan gesprochenen Kantonesisch gegenüber dem Mandarin) in Gegensatz zum "großen Deng"; der Spruch "bei Tag gehörte dem Großen Deng; die Nacht der kleinen Deng" wurde zum geflügelten Wort. Um also eine klangliche Coda zum Wolkenbruch setzen, seien hier einige Versionen eines der Sogs hergesetzt, der zu den unverbrüchlichen Evergreens der chinesischsprachigen Populärmusik zählt: das Lied vom kalten Regen, immer wieder eingespielt und, anders als bei sehr vielen Mando- und Kantopopreprisen, auch in späteren Versionen nicht zu kitschiger und belangloser akustischer Allerwelt-Klangtapete, zur Elevator music oder Muzak verwässert (no pun intended!) - ein Schicksal, das diese Lieder etwa mit dem brasilianischen Samba teilen.

Beginnen wir deshalb mit der neuesten Version, von 蔡琴, Tsai Chin, von 2007: 





 寒雨曲 (Hán yǔ qū) - Das Lied vom kalten Regen

吹過了一霎的風 
帶來了一陣朦朦的寒雨
雨中的山上是一片翠綠 
只怕是轉眼春又去
雨啊雨 你不要阻擋了
他的來時路 來時路
我朝朝暮暮盼
望著有情侶

Chuīguò le yīshà de fēng 
dài lái le yīzhèn méngméng de hányǔ
yǔzhōng de shānshàng shì yīpiàn cuì lǜ 
zhǐ pà shì zhuǎn yǎn chūn yòuqù
yǔ a yǔ nǐ bùyào zǔdǎng le
tā de lái shí lù lái shí lù
wǒ zhāozhāo mùmù pàn
wàng zhe yǒu qínglǚ

Ein schwerer Wind ist aufgezogen
Und hat Nebel und kalten Regen gebracht.
Im Regen (雨) schimmern die fernen Hügel im dunkelsten Grün.
Ich hatte Angst, daß der Frühling in einem Atemzug vorbei ist.
Regen, ach Regen (雨啊雨): versperr meinem Liebsten
Nicht den Weg, wenn er zu mir kommt.
Vom Morgen bis zur Nacht
Warte ich, daß er bei mir ist.

Sicherlich kein weltbewegender Text, keine große Lyrik: aber die schwebende Melancholie macht das Stück zu einem Äquivalent zweier anderer, die just in der gleichen Zeit im Zentrum der alten Welt komponiert wurden: Reszö Seress Lied vom "Traurigen Sonntag" (1933 komponiert und als "Gloomy Sunday" mit der urbanen Legende behaftet, es handele sich hier um eine Selbstmörderballade mit Ansteckungsgefahr), und "J'attendrai" von 1938, das für den Referenten immer mit der Stimme von Jean Sablon verbunden sein wird, obwohl Rina Kelly es zuerst platt geschallt hat. Zudem: ein großes Lied dieser Art bedarf keines tiefschürfenden Textes. Welcher Blues könnte für sich reklamieren, textlich mehr zu bieten als "woke up this morning / and my baby was gone..."

Stichworte "Blues" und 1938: Das Lied selbst ist 1938 entstanden, und zwar in Japan. Komponiert hat es Ryōichi Hattori (1907-1993), und gesungen hat den 雨のブルース (Ame no burūsu), den "Regenblues" Noriko Awaya (1907-1999), die Anfang der 30er Jahre wegen ihres Interpretation von Liedern im schwermütigen, aber melodischen westlichen Stil - zumeist Tangos, aber auch Jazzballaden - den Titel "Königin des Blues", ブルースの女王 (burūsu no joō) erhielt. 



(Nori Awaya, Ame no Burūsu, 1938)

雨よ降れ降れ 悩みをながすまで
どうせ涙に 濡れつつ
夜ごと 嘆く身は
ああ かえり来ぬ心の青空
すすり泣く 夜の雨よ

Der Regen fällt, bis ich es nicht mehr ertrage
Und mein Gesicht ist nass von Tränen 
Jede Nacht schmerzt der Verlust...
Der Himmels meines Herzens wird nie wieder blau strahlen
Regen der Tränen ... jede Nacht Regen.

Auf chinesisch wurde das Lied zuerst 1963 aufgenommen: von Mai Tai (geb. 1939) auf ihrer ersten LP "Unvergeßliche Erinnerungen". Insgesamt hat sie das Stück, dessen chinesischer Text von Chen Yunqing stammt, dreimal in verschiedenen Versionen eingespielt. Hier die Fassung vom Februar 1963 auf Triangle Records CM7:


Und hier ihre Version von 1970:



Zu Chen Yunqing bliebe noch anzumerken, daß im Chinesischen der popmusikalische Fluch des "Club 27" anscheinend weniger Gültigkeit besitzt, als in der westlichen Dekadenz, wo dergleichen Selbstzerstörung als Authentizitätserweis (wenn auch noch nicht mit demselben Hintrittsalter) spätestens mit Hank Williams und Charlie Parker de rigeur zu werden scheint: er starb am 14. Oktober 2007 in Hongkong, vier Tage vor seinem 100. Geburtstag.

Hier Sarah Chen/陳淑樺 von 1977:



Apropos "J'attendrai": Rebecca Pan Wan Ching, als Sängerin zumeist nur als Rebecca Pan firmierend, hat Ende der sechziger Jahre in Hongkong diese Version aufgenommen: zur Hälfte auf Mandarin, zur Hälfte in Französisch gesungen:



Als Coda - als letzte jetzt - noch eine Dreingabe von von Noriko Awaya, 青い小径, die "Serenade in Blau" (aoi shōkei) von 1934 - ein waschechter Tango:





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U.E.

© Ulrich Elkmann. Für Kommentare bitte hier klicken.